Blick über den Tellerrand

Ein unerwartetes Wiedersehen mit einem von mir sehr geschätzten Gedanken aus dem Umfeld von Wabi Sabi machte mich am letzten Wochenende glücklich: Dass die Spuren der Nutzung, die Beschädigungen Dinge erst wirklich ins Leben bringen und wertvoll machen. Das kleine chinesische Seladon-Tellerchen im Frankfurter MAK wurde mit japanischem Goldlack repariert. So fühle ich mich. Ziemlich angejahrt, etwas abgenutzt, gut repariert und (mir) wertvoll. Ich behaupte, dass wir im Angesicht von Kunst nur uns selbst sehen. Beweise?

Im Labyrinth

Im Labyrinth des Herforder Marta waren wir, eine Gruppe aus dem Bundesverband Museumspädagogik, in Begleitung der Kunstvermittlerin Angela Kahre an einem Montag unterwegs. Die ohnehin irgendwie magischen Räume von Frank Gehry sind mit dieser Ausstellung kongenial bespielt. Und schon wieder durfte meine alte Liebe zu China aufblühen: Song Dong hat eine Jurte nachempfunden, indem er die Fensterrahmen abgerissener traditioneller Gebäude mit verspiegelten Scheiben zu Außenwänden zusammensetzte. Im Inneren fand ich eine Märchenwelt aus Spiegeln und Lampen, die mich sprachlos machte.

Jurte von Song Dong

Ist das ein Sternenhimmel, unter dem ich im Sommer so gerne schlafe? „Alles unter dem Himmel“ nannten die Chinesen ihr Kaiserreich. Dank des verspiegelten Bodens ist alles unter diesem Himmel eine leuchtender Abgrund.

Chiharu Shiota hat Kurosawas Spinnwebwald in seiner denkbar lieblichsten Version ins Marta gebracht. Tagelanger gemeinsamer Aufbau mit zehn Mitarbeitern nach wenigen klaren Spielregeln hat diesen faszinierenden Raum entstehen lassen.

Chiharu Shiotas gewobener Raum

 

Beide Arbeiten erzählen von den Eigenschaften des Materials, von Geduld, Vorstellungskraft und Präsenz. Ich könnte noch lange schwärmen, die ganze Ausstellung war wie eine warme Dusche von Sinneseindrücken, durchaus auch mal einschüchternd oder verwirrend. In einer Woche ist alles vorbei. Zeitgenössische Kunst ist auf wohltuende Weise unewig. Und natürlich sehe ich da wieder mal mich, mit meiner Begeisterung für die chinesische Kultur, meiner Neugier auf die japanische (ob ich da wohl noch hinkomme?), meinem lang gehegten Wunsch, einmal einen ganzen Raum mit Kunst ausstatten zu dürfen.

Druckgraphik unter die Lupe genommen

… hat die Gemäldegalerie Alte Meister in Kassel. Da ich von Herford zurück auf keinen Fall vier Stunden am Stück fahren wollte, habe ich einen Schlenker dorthin gemacht. Nach einem langen Blick auf den Bergpark samt Herkules und einem leckeren Frühstück im Café Jérome habe ich mich zwischen die Alten Meister und später in diese kleine, feine Ausstellung der Graphischen Sammlung begeben. Mit wunderschönen und sinnfälligen Beispielen wurden hier druckgrafische Techniken vorgestellt, zunächst in Blättern von Dürer, denen Heliogravüren ZUM ANFASSEN an die Seite gestellt waren. Ich konnte fühlen, wie die Linien sich ballten und lockerten! Auf diese Weise sensiblisiert und mit Lupen eingeladen, alles ganz genau zu betrachten, habe ich mich hier in den Blättern von vielen wunderbaren Künstlern verloren und natürlich im „Handschuh“ von Max Klinger. Dazu ein kleines Broschürchen mit verständlichen Erklärungen dazu, wie Kupferstich, Radierung, Kaltnadel, Schabkunst, Aquatinta und Aussprengverfahren funktionieren. So einfach kann es sein, technische Rafinesse in das Glücksgefühl münden zu lassen, etwas gesehen, erkannt, erobert zu haben. Mich beobachtend wünsche ich mir, den Besuchern im Landesmuseum Mainz noch viel öfter Sinneseindrücke zusätzlich zum Sehen bescheren zu können.

 

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